zur Ausstellung:
“Writing is drawing", heißt es bei Tim Ingold (‘Lines‘). Ingolds These ist natürlich ein wichtiger Bezugspunkt für die Auswahl zeichnerischer Arbeiten, die die Ausstellung ‘Les Écrits‘ präsentiert (nach ‘Verzeichnen‘ (Ende 2019) und ‘traumatic lines‘ (im August 2020) die dritte und abschließende Ausgabe unserer Ausstellungstrilogie zum weiten Feld der Zeichnung). Allerdings führt der Verweis auf Ingold und so auch der Ausstellungstitel in einer Hinsicht in die Irre: Es gibt hier nichts zu lesen! Im ein und anderen Fall mag man ein Wort, vielleicht einen knappen Satz entziffern können (Katja Pudor, Saskia Wendland). Und allenthalben lässt sich von Schriftbildern sprechen (Isabel Zuber, Myriam El Haïk, auch Pierre Sportolaros geradezu seismographischen Aufzeichnungen eines Flugs von Berlin nach Paris). Nur geht diesen Schriftbildern die für das Schreiben essenzielle Signifikanz ab. Es wird daraus kein Text, kaum einmal ein Wort und nur selten ein Satz. So gilt für die mit ‘Les Écrits’ vorgestellten Arbeiten zwar Ingolds “writing is drawing“, aber nicht zugleich ein: … is writing.
Die Lektüre dieser Schriftbilder muss ohne schriftsprachliche Bedeutung auskommen. Es geht um ein Schreiben diesseits des Sprachlichen und der Ordnung des Symbolischen; um Geschriebenes, das zwar das Terrain des Allographischen bespielt, sich dabei aber ganz aufs Kontingente zurückzieht. Eine Signatur, selbstverständlich autographisch, der es noch nicht einmal auf den eigenen Namen ankommt. Damit ist nun Bezug genommen auf Nelson Goodmans Unterscheidung zwischen dem Autographischen und dem Allographischen, und dass im Allographischen die formalen Eigenschaften des Geschriebenen für die Bedeutung unerheblich sind. Ob Tinte, Bleistift, Filzer, die Schriftfarbe, -größe und -gestalt, all das ist für die schriftsprachliche Bedeutung irrelevant, redundant. Die mit ‘Les Écrits’ vorgestellten Arbeiten bieten der Lektüre aber eben nur das. So kann der Betrachter nicht umhin, vor allem dem im Schriftbild aufgezeichneten Schreibakt nachzugehen. Die Zeichnung noch einmal als rein performativer Akt, als Tun, fast schon Nichtstun (Sportolaro) und schließlich als schlichtes Warten (Isidore Hibous ‘Till Death Dries’).
Allerdings ist der Betrachter für diese Art Lektüre durch das selbst mühsam erlernte ‚Mit-der-Hand-Schreiben‘ gut gerüstet. Die durch die Kulturtechnik der Handschrift konditionierte Physis findet sich beim Nachgehen des Geschriebenen unvermittelt in einer Welt feinmotorischen Schon-Verständigt-seins. Ein Einstimmen und Mitklingen, das auf die im prozeduralen Gedächtnis eingeschliffenen Automatismen der eigenen Hand Bezug hat. Und man fragt sich, wie für diese Art Zeichnung Roland Barthes berühmte Frage zum romantischen Lied zu reformulieren wäre. Die lautete: „Was singt mir, der ich höre, in meinem Körper das Lied?“
Aber wer singt, wer zeichnet?
Eine der Zeichnungen Katja Pudors wiederholt bis zur Unleserlichkeit ein knappes “Ich schreibe” (übrigens eine Arbeit, die wie Sportolaros seismographische Aufzeichnungen im Flugzeug entstanden ist). Ein repetitiver Schreibakt, in dem ein anderes Ich als das der symbolischen Ordnung auftritt. Vielleicht ist es das Gegenüber des ‘Ich‘, das bei Barthes fragt “Was singt mir, der ich höre …”. Nicht ein ‘Wer‘, sondern ein ‘Was‘, das singt. Um dieses ‚Was‘ im Modus der Erinnerung ging es schon bei den ‚traumatic lines‘ (der 2. Ausgabe unserer Trilogie): „… physische, nonverbale Schichten des Erinnerns, die sich gegen eine Übertragung in die lineare Ordnung der Sprache und der geschriebenen und erzählten Geschichte sperren, aber zugleich eine andere Lesbarkeit eröffnen“. Auch die Schriftbilder, die ‚Les Écrits‘ präsentiert, begeben sich an die Ränder des Symbolischen und rühren ans Traumatische, an die Ordnung des Realen, das sich, nach Lacan, eben nicht zu Wort zu melden weiß, das sich gegen das Symbolische sperrt.
Damit sind wir nun bei der einzigen Arbeit in ‘Les Écrits‘, die mit einem (maschinengeschriebenen) Text antreten muss - und im Übrigen vor allem gewartet hat: Isidore Hibous ‘Till Death Dries‘ (man wird des Todes nur im Symbolischen habhaft). Der Text kehrt zurück zur Schulbank (auf der man das Schreiben lernt). Hibou war 9 oder 10 als ein vormaliges Mitglied der französischen Résistance die Klasse besuchte, eingeladen, um von seinen Kriegserlebnissen zu berichten. Nur eines blieb in Erinnerung: Die im hohlen Zahn versteckte Zyankalikapsel. Hibou schreibt „… cette possibilité offerte de sortir de la pièce …“ („… diese stets gegebene Möglichkeit, das Zimmer zu verlassen …“). Für das in der Ausstellung gezeigte Glas hat Hibou eine ausreichende Dosis Gardenal-Tabletten zerstampft, in Wasser aufgelöst und gewartet. Das Gemisch war nach einem Monat verdunstet. Auf der Innenseite des Glases blieben Ablagerungen in der Form sonderbarer schwarzer Spitzen zurück. Noch einmal traumatic lines, in denen man Hibous langes Warten und die ihm viele Jahre nachgegangene Erinnerung an die Kapsel im hohlen Zahn nachlesen kann.’Till Death Dries’
on the show
“Writing is drawing” says Tim Ingold (in 'Lines'). Of course, an important reference for the selection of drawings on show at 'Les Écrits' (after 'Verzeichnen' (end of 2019) and 'traumatic lines' (August 2020) the third and final edition of our trilogy of group shows on the extended field of drawing). However, the reference to Ingold, and also the exhibition title, leads astray in one respect: there is nothing to read! One may be able here and there to decipher a word or perhaps a brief sentence (e.g. Katja Pudor, Saskia Wendland). And more generally all the exhibited drawings have a typeface, are handwritten drawings (Isabel Zuber, Myriam El Haïk, and also Pierre Sportolaro's rather more seismographic recordings of a flight from Berlin to Paris). However, they lack the significance that is essential for writing. They are not text, and only rarely a readable word or short sentence shows up. Thus, whilst 'Les Écrits' provides ample evidence for Ingold's “writing is drawing” there is no drawing that would suggest an “… is writing”.
“Reading” these handwritten drawings must do without much linguistic meaning. It’s writing on this side of language and of the order of the symbolic. Writing in the realm of the allographic. Some sort of, obviously autographic, signature, though, not even bothered to put a name. Nelson Goodman (‘Languages of Art’) discussed at some length the distinction between the autographic and the allographic, emphasizing that for the latter the formal properties of what’s written are contingent, completely irrelevant for the meaning. Whether ink, pencil, or felt-tip pen, the color, size, and shape of the letters, all of these features are redundant, not relevant. The drawings presented at 'Les Écrits' offer nothing but that. Thus, the viewer of these drawings is pushed to follow, above all, the physical act of writing as recorded in the written image. It’s again drawing as a purely performative act, as doing, in some cases almost doing nothing (Sportolaro) and finally simply waiting (Isidore Hibou's 'Till Death Dries').
However, the viewer is well equipped for this kind of reading. Having undergone himself the lengthy and laborious exercise of learning to write is there to help. It’s in the dimension of the physical, of the own hand conditioned by that exercise of learning to write, that the viewer relates to these works. A kind of bodily tracing of the recorded act of writing in the shared world of the fine motor skills of the hand. A tuning in and resonating that refers to the automatisms ingrained in the viewer’s body and procedural memory. And one wonders how Roland Barthes' famous question about the romantic ‘Lied’ would have to be reformulated for this kind of drawing. The question was: "What sings to me, who hears, in my body the song?"
Galerie Vincenz Sala
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