H.A.

Am Wochenende gehe ich fast immer zum Flohmarkt, vor allem wegen Schallplatten. Seit ich mir mit 13 meine ersten Platte gekauft habe bin ich vinylsüchtig. Ich liebe das Unverhoffte, und schaue auch nach allerlei obskuren Objekten aus, finde mich aber immer wieder beim Durchstöbern von Plattenkisten. Seit 1994 habe ich auch eine spezielle Sammlung als Arbeit angelegt, Live Platten von toten Stars. Die immer weiter wachsende Sammlung mit Titel Live/Dead wurde oft in Ausstellungen gezeigt und umfasst heute mehr als 350 Platten.

In Berlin gibt es eine wilden und etwas zerzausten Flohmarkt gegenüber dem manikürten im Mauerpark, und dort habe ich  in der letzten Zeit aus Bananenkisten einige Platten gekauft, die alle vom selben Besitzer mit Initialen H.A. stammen. H.A. benutzte die Schallplattenhüllen, um damit zu collagieren, mit welchen Absichten kann ich nur hier nur spekulieren. Ich war glücklich über den Fund dieser Objekte, und habe sie mir ohne schlechtes Gewissen angeeignet, nicht als Musik, sondern als fertige Kunstwerke, die nur darauf warten, als ganze Serie oder einzeln ausgestellt zu werden. Keine Readymades im Duchamp’schen Sinn, eher Objet trouvé im Geist des Nouveau Realisme, was auch zur Zeitspanne der Platten, späte 60iger, vor allem 70iger bis frühe 80iger Jahre passt. Die Collagen dagegen wurden wahrscheinlich alle zwischen 2007 und 2012 gefertigt.

In der Kombination der LP-Hülle, die ja in den meisten Fällen auch schon von Künstlern gestaltet wurde, und H.A.’s Darüberkollagieren eröffnen sich Assoziationsfelder, welche ich im Folgenden aus meiner subjektiven Perspektive kurz ausbreiten möchte. Mein Zugriff auf diese Objekte ist das Ausbreiten aller Informationen auf einer Ebene, eine Auslegeordnung, die H.A. sicher nie so gesehen hat, weil sie das Aufschlitzen und Aufklappen der Covers erfordert. Ausserdem werden die Collagen, statt gerahmt von mir auf grosses farbiges Papier ausgelegt. Fela Kuti and Africa’70 with Ginger Baker Live! habe ich auf Bitte des Galeristen als Beispiel ausgesucht. Sie könnte auch zu der eingangs erwähnten Sammlung Live/Dead gehören, da beide, Fela Kuti und Ginger Baker, nicht mehr bei uns weilen.Insgesamt habe 13 Schallplatten aus dem Fundus von H.A. geborgen, vielleicht ist das ja nur die Spitze des Eisbergs. Auf dem Innenlabel der allerletzen Schallplatte, die ich kaufte, Crown of Creation von Jefferson Airplane, fand ich überraschend H.A.’s vollen Namen. Schnell finde ich im Netz eine Todesanzeige vom 1. April 2021, aufgegeben von der Berlinischen Galerie. Dort frage ich beim Direktor nach:

Lieber Thomas, Kanntest Du diesen Herrn? Ich habe am Flohmarkt einige seiner mit Kollagen verzierten Schallplatten gefunden, und möchte damit etwas machen. Wenn es denn dieselbe Person ist…

Thomas schreibt zurück:

Lieber Christoph.

Es scheint, als handele es sich um ein und dieselbe Person. Herr H.A. war in der Berlinischen Galerie Besucherbetreuer/Aufsicht. Allerdings mit sehr schweren psychischen Problemen. Er lebte sehr für sich und starb alleine in seiner Wohnung. Erst nach einer Woche hat man ihn gefunden. Obwohl es eine Schwester gibt, wurde der Nachlass von Amts wegen aufgelöst. Alles sehr traurig und bizarr…

So sind diese Platten also zum Flohmarkt gekommen. Ich bin froh, dass ich sie gefunden habe und dass ich diese kleine Sammlung als eine Art von Art Brut,  also Aussenseiterkunst, für die Nachwelt konservieren konnte.